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2.5 Lineare Gleichungssysteme

Zum Schluss dieses einführenden Kapitels möchte ich wenigstens ein kleines bisschen lineare Algebra besprechen, nämlich die einfachsten Fälle linearer Gleichungssysteme. Dieses Material ist für Sie wahrscheinlich nicht neu (höchstens die systematische Form der Betrachtung). Es soll ein kleiner Ausblick auf das erste große Ziel der Vorlesung sein – die Lösung linearer Gleichungssysteme mit dem Gauß-Algorithmus (5.2). Auch wenn dann im späteren Verlauf die linearen Gleichungssysteme weniger sichtbar sind, bleibt der Gauß-Algorithmus ein wichtiges Mittel für die allermeisten Aufgaben, in denen etwas berechnet werden soll.

Eine Gleichung ist ein Ausdruck, in dem zwei Terme gleichgesetzt werden, in denen eine oder mehrere Unbestimmte (die wir unten \(X\), \(Y\), \(X_1\), \(X_2\), … nennen) vorkommen, sowie Zahlen (»Koeffizienten«, unten mit kleinen Buchstaben bezeichnet) aus einem Zahlbereich \(K\) (zum Beispiel: die rationale Zahlen oder die reelle Zahlen). Ein Gleichungssystem besteht einfach aus mehreren Gleichungen.

Wir suchen die Lösungsmenge der Gleichung oder der Gleichungssystems, also alle Möglichkeiten, für alle Unbestimmten Elemente aus \(K\) so einzusetzen, dass alle Gleichungen erfüllt sind. Zum Beispiel ist für die Gleichung \(x^2 = 2\) die Lösungsmenge die leere Menge, wenn wir die Gleichung über den rationalen Zahlen betrachten, und die Menge \(\{ \sqrt{2},-\sqrt{2}\} \), wenn wir die Gleichung über den reellen Zahlen betrachten.

2.5.1 Lineares Gleichungssystem mit 1 Gleichung und 1 Unbestimmten

Wir beginnen ganz einfach und betrachten die Gleichung

\[ aX = b \]

für Elemente \(a, b\in K\). Die Lösungsmenge \(\mathbb L\) ist dann eine Teilmenge von \(K\), genauer die Teilmenge \(\{ x\in K; ax=b\} \).

Fall 1: \(a \ne 0\). Dann ist die Lösungsmenge \(\mathbb L = \left\{ \frac ba \right\} \).

Fall 2: \(a = 0\), \(b\ne 0\). Dann ist die Lösungsmenge leer: \(\mathbb L = \emptyset \).

Fall 3: \(a=b=0\). Dann ist jedes \(x\) eine Lösung, \(\mathbb L = K\).

2.5.2 Lineares Gleichungssystem mit 1 Gleichung und \(n\) Unbestimmten

Nun betrachen wir eine Gleichung der Form

\[ a_1 X_1 + a_2 X_2 + \cdots + a_n X_n = b, \]

in der mehrere Unbestimmt auftreten (aber keine höheren Potenzen der \(X_i\) – es handelt sich um eine lineare Gleichung). Die Lösungsmenge ist dann eine Menge von »\(n\)-Tupeln«, also Listen der Länge \(n\), von Elementen in \(K\). Wir bezeichnen die Menge aller \(n\)-Tupel \((x_1, \dots , x_n)\), \(x_i\in K\), mit \(K^n\) (vergleiche 3.10.1).

Fall 1: Es gibt ein \(i\) mit \(a_i \ne 0\). Dann erhalten wir alle Lösungen der Gleichung folgendermaßen. Wir wählen beliebige Elemente \(x_1,\dots , x_{i-1}, x_{i+1}, \dots , x_n\in K\) und definieren

\[ x_i = \frac{1}{a_i}(b- a_1 x_1 + \cdots a_{i-1} x_{i-1} + a_{i+1}x_{i+1}+ \cdots +a_n x_n). \]

Wir schreiben die Lösungsmenge in der Form

\begin{align*} \mathbb L = & \left\{ \left(x_1,\dots , x_{i-1}, \frac{1}{a_i}(b- a_1 x_1 + \cdots a_{i-1} x_{i-1} + a_{i+1}x_{i+1}+ \cdots +a_n x_n), x_{i+1}, \dots , x_n\right);\right.\\ & \left.\phantom{\frac{1}{a_i}} x_1,\dots , x_{i-1}, x_{i+1}, \dots , x_n\in K\right\} . \end{align*}

Fall 2: Alle Koeffizienten \(a_i\) sind gleich \(0\).

Fall 2a: \(b=0\). In diesem Fall lösen alle \(x_1, \dots , x_n\in K\) die Gleichung. Wir schreiben die Lösungsmenge als

\[ \mathbb L= K^n = \{ (x_1, \dots , x_n);\ x_1, \dots , x_n\in K\} . \]

Fall 2b: \(b\ne 0\). In diesem Fall ist die Gleichung \(0 = b\) nicht erfüllt, also ist die Lösungsmenge die leere Menge.

2.5.3 Lineares Gleichungssystem mit 2 Gleichungen und 2 Unbestimmten

Nun betrachten wir ein System von zwei Gleichungen und suchen alle Paare \((x, y)\) von Elementen aus \(K\), die beide Gleichungen

\begin{align*} aX + bY & = e \\ cX + dY & = f \\ \end{align*}

gleichzeitig erfüllen. Die Lösungsmenge ist dann eine Teilmenge von \(K^2\), der Menge aller Paare \((x,y)\) von Elementen in \(K\).

Fall 1: \(a\ne 0\). Wir ziehen das \(\frac ca\)-fache der ersten Gleichung von der zweiten Gleichung ab, multiplizieren danach die zweite Gleichung mit \(a\) und erhalten das lineare Gleichungssystem

\begin{align*} aX + bY & = e \\ (ad-bc)Y & = af - ec.\\ \end{align*}

(Machen Sie sich klar, dass sich die Lösungsmenge nicht ändert: Das neue System hat die gleiche Lösungsmenge, wie das ursprüngliche System. Vergleiche Lemma 5.12.)

Fall 1a: \(a\ne 0\), \(ad-bc \ne 0\). Wir können dann die zweite Gleichung durch \(ad-bc\) teilen, dies in die erste Gleichung einsetzen, und die erste Gleichung durch \(a\) dividieren. Wir erhalten:

\begin{align*} X & = \frac ea - \frac ba\cdot \frac{af-ec}{ad-bc} = \frac{e(ad-bc) - b(af-ec)}{a(ad-bc)} = \frac{ed - bf}{ad-bc} \\ Y & = \frac{af-ec}{ad-bc}.\\ \end{align*}

Fall 1b: \(a\ne 0\), \(ad-bc = 0\), \(af-ec = 0\). Dann bekommen wir

\begin{align*} aX + bY & = e \\ 0 & = 0, \end{align*}

d.h. die zweite Gleichung fällt weg. Für beliebiges \(y\) erhalten wir die Lösung \((\frac{e-by}{a}, y)\). (Vergleiche den Fall einer Gleichung mit 2 Unbestimmten.)

Fall 1c: \(a\ne 0\), \(ad-bc = 0\), \(af-ec \ne 0\). Dann ist die zweite Gleichung niemals erfüllt, egal, was wir für \(X\) und \(Y\) einsetzen – die Lösungsmenge ist leer.

Fall 2: \(a = 0\), \(c\ne 0\). Diesen Fall können wir analog zu Fall 1 behandeln. Oder wir können ihn durch Vertauschen der beiden Gleichungen, also durch Umbenennen der Koeffizienten) auf Fall 1 zurückführen. Weil \(ad-bc = -(cb-ad)\) gilt, sind die Bedingungen \(ad-bc \ne 0\) und \(cb - ad = 0\) äquivalent. Wir erhalten also wieder genau dasselbe Kriterium für die eindeutige Lösbarkeit des gegebenen linearen Gleichungssystems. Weil sich bei den Ausdrücken \(ed-bf\) und \(af-ec\) bei Vertauschen der beiden Zeilen auch gerade das Vorzeichen ändert, gilt in diesem Fall auch wieder die gleiche Formel für die eindeutige Lösung.

Fall 3: \(a = c = 0\). In diesem Fall spielt die Wahl von \(X\) überhaupt keine Rolle. Die Lösungsmenge des linearen Gleichungssystems ist die Schnittmenge der Lösungsmengen von \(bY = e\) und \(dY=f\), die jeweils wie oben besprochen (1 Unbestimmte, 1 Gleichung) bestimmt werden können. Im Ergebnis kann die Lösungsmenge leer sein, oder \(Y\) ist eindeutig bestimmt (und \(X\) ist frei wählbar), oder \(Y\) (und \(X\)) sind beide frei wählbar.

Wir können unser Ergebnis in der folgenden Form zusammenfassen:

  1. Das lineare Gleichungssystem ist eindeutig lösbar genau dann, wenn \(ad-bc \ne 0\). Dann ist

    \[ \mathbb L = \left\{ \left( \frac{ed - bf}{ad-bc}, \frac{af-ec}{ad-bc} \right) \right\} . \]
  2. Wenn \(ad-bc = 0\), aber nicht alle Koeffizienten \(a\), \(b\), \(c\), \(d\) verschwinden:

    1. Gilt \(af-ec = ed-bf = 0\), so gibt es so viele Lösungen wie die Anzahl der Elemente des Zahlbereichs \(K\) (also unendlich viele, wenn \(K\) unendlich viele Elemente hat).

    2. Gilt \(af-ec \ne 0\) oder \(ed-bf \ne 0\), so gibt es keine Lösungen: die Lösungsmenge ist leer.

  3. Gilt \(a=b=c=d=0\), dann können die folgenden Fälle auftreten:

    1. Ist \(e=f=0\), so sind alle Paare \((x,y)\) Lösungen des linearen Gleichungssystems.

    2. Ist \(e\ne 0\) oder \(f\ne 0\), so ist die Lösungsmenge leer.

Wir sehen auch: Wir wollen zwar auch größere Gleichungssysteme (mehr Unbestimmte, mehr Gleichungen) verstehen, aber nicht in dieser Art und Weise weitermachen. Die Fallunterscheidungen dafür würden viel zu unübersichtlich werden. Wir benötigen einen systematischeren Ansatz, der besser die zugrundeliegende Struktur des Problems ausnutzt und sichtbar macht.