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11 Analytische Geometrie *

In diesem Kapitel werden wir die Verbindung zwischen der »algebraischen« Theorie und geometrischen Fragen herstellen. Es soll hier vor allem darum gehen zu erklären, dass die Theorie, so wie wir sie in den Kapiteln 6 bis 10 entwickelt haben, auch geometrisch interpretiert werden und dazu benutzt werden kann, geometrische Sachverhalte zu beschreiben und zu beweisen. Es würde hier zu weit führen, dies tatsächlich in nennenswertem Umfang durchzuführen.

Was ist Geometrie?

Vom Wortursprung – griechisch \(\gamma \varepsilon \omega \mu \varepsilon \tau \rho \acute{\iota } \alpha \) – bedeutet Geometrie »Vermessung der Erde«, und die Vermessung (von Teilen) der Erde und des Universums war eine Aufgabe, die maßgeblich zur Entwicklung der mathematischen Theorie der Geometrie und der Mathematik insgesamt beigetragen hat. Und zwar schon vor mehreren Tausend Jahren; aber auch Gauß hat sich intensiv mit der Landvermessung (konkret der Vermessung des Königreichs Hannover) beschäftigt, und wurde dadurch zu wichtigen Ergebnissen der Differentialgeometrie von Flächen motiviert, insbesondere zu dem Begriff der Krümmung, der heute nach ihm benannt ist. Die Berechnung der Planetenbahnen ist ein anderes Beispiel für ein historisch bedeutsames Einsatzgebiet der Geometrie. Auch heutzutage sind ähnliche Fragen von praktischer Relevanz, Stichwort (zum Beispiel): GPS.

Es ist allerdings nicht ganz einfach, in ein oder zwei Sätzen zu beschreiben, was »Geometrie« im mathematischen Sinne eigentlich ist. Vielleicht auch deshalb, weil es mehrere Gebiete der Geometrie gibt, die zwar gewisse Gemeinsamkeiten haben, sich aber zum Teil auch sehr unterscheiden. Hier eine – unvollständige – Liste:

Analytische Geometrie – die analytische Geometrie ist die »Geometrie des Koordinatensystems«, d.h. Punkte, Geraden, Ebenen … werden in Termen des Koordinatensystems in \(\mathbb R^n\) (oder allgemeiner: eines geeigneten Koordinatensystems) beschrieben. Man kann dann Abstände und Winkel definieren, geometrische Zusammenhänge »algebraisch« ausdrücken und mit diesen Objekten »rechnen«.

Affine, projektive Geometrie – unter affiner Geometrie versteht man zunächst die Geometrie des Raums \(\mathbb R^n\) (oder unter Umständen des \(K^n\) für irgendeinen Körper \(K\)). Man kann außerdem aus den essenziellen Eigenschaften dieser Räume ein Axiomensystem ableiten und dann darin arbeiten, ohne noch auf den konkreten Raum \(\mathbb R^n\) (oder überhaupt auf einen Grundkörper) Bezug zu nehmen. Man spricht dann auch von synthetischer (oder: axiomatischer) Geometrie. In der projektiven Geometrie wird dabei der »affine Raum« ersetzt durch den größeren »projektiven Raum«, der zwar nicht mehr direkt dem Anschauungsraum entspricht, sich aber aus geometrischer Sicht in mancherlei Hinsicht besser (und einfacher) verhält. Zum Beispiel gilt, dass sich je zwei verschiedene Geraden in der projektiven Ebene in genau einem Punkt schneiden; den Sonderfall der parallelen Geraden gibt es also nicht mehr. Man erreicht das, indem man der affine Ebene in geeigneter Weise zusätzliche Punkte hinzufügt, die man die Punkte »im Unendlichen« nennt.

Der Leser soll gleichsam in dem großen Garten der Geometrie spazieren geführt werden, und jeder soll sich einen Strauß pflücken können, wie er ihm gefällt.

David Hilbert, in Anschauliche Geometrie, Springer 1932, Vorwort, S. VI.

Die spezielle Problematik dieses Kapitels ist, dass viele Begriffe der Geometrie uns »im Prinzip« bekannt sind, wir aber eine mathematische Definition erst geben müssen (zum Beispiel: Abstand, senkrecht, Drehung, Winkel). Ich möchte hier besonderen Wert darauf legen, zu erklären, warum genau die gegebenen Definitionen die »richtigen« sind. Mindestens sollte das bedeuten, dass sich die so definierten Begriffe so verhalten, wie wir es vom anschaulichen Verständnis her erwarten. Noch überzeugender ist es in der Regel, wenn man sogar begründen kann, dass es sich um die einzig mögliche Definition handelt, die gewisse Eigenschaften, die wir jedenfalls fordern wollen, hat.

Was ist Geometrie (Fortsetzung)

Differentialgeometrie – in der Differentialgeometrie untersucht man »differenzierbare Mannigfaltigkeiten«, also geometrische Objekte, die lokal aussehen wie offene Teilmengen von \(\mathbb R^n\), und die »aus solchen Stücken durch differenzierbare Übergangsabbildungen zusammengeklebt« werden können. (Wenn man zusätzliche Strukturen betrachtet, kommt man zu Varianten wie der Riemannschen Geometrie oder der symplektischen Geometrie.)

Komplexe Geometrie – die komplexe Geometrie ist das Analogon der Differentialgeometrie über den komplexen Zahlen, d.h. der »übliche« Begriff der differenzierbaren Abbildung wird ersetzt durch den Begriff der komplex differenzierbaren (oder: holomorphen) Funktion.

Algebraische Geometrie – in der algebraischen Geometrie beschäftigt man sich, grob gesprochen, mit geometrischen Objekten, die als Lösungsmengen von Gleichungssystemen von Polynomgleichungen (in mehreren Unbestimmten) beschrieben werden können. Über den reellen und komplexen Zahlen lassen sich die Techniken der Differentialgeometrie und der komplexen Geometrie anwenden, aber die Klasse der »algebraischen« Objekte, die hier betrachtet werden, ist wesentlich kleiner. Weil man Polynome über jedem Körper betrachten kann (auch ohne einen Grenzwert- und Ableitungsbegriff zur Verfügung zu haben), ist die algebraische Geometrie auch nützlich, um Fragen über (beispielsweise) endliche Körpern zu studieren und eröffnet insbesondere die Möglichkeit, zahlentheoretische Fragen mit geometrischen Methoden zu untersuchen. Dieser Einfluß hat die Zahlentheorie in den letzten 60 Jahren wesentlich geprägt.

Rigide Geometrie – die rigide (oder: rigid-analytische) Geometrie ist ein Analogon der komplexen Geometrie über gewissen anderen Grundkörpern als den komplexen Zahlen, insbesondere über dem Körper \(\mathbb Q_p\) der »\(p\)-adischen Zahlen«. Die von Scholze eingeführten »perfektoiden Räume«, die den Grundstein für die Ergebnisse bilden, für die er 2018 die Fields-Medaille bekommen hat, sind Objekte der rigiden Geometrie.

Wir werden in der Linearen Algebra 2 einige der Konzepte, die wir hier einführen, verallgemeinern und noch ausführlicher studieren. Dort werden wir dann – wie in der Linearen Algebra 1 zum Beispiel mit den Begriffen des Körpers und des Vektorraums – die wesentlichen Eigenschaften, beispielsweise des Abstands- oder Winkelbegriffs – in abstrakte Definitionen fassen, die uns erlauben, eine Theorie zu entwickeln, die gleichzeitig auf die Geometrie der Ebene \(\mathbb R^2\) und des Raums \(\mathbb R^3\) (und höherdimensionale \(\mathbb R^n\)), wie wir sie kennen, und auf andere Räume angewandt werden kann, deren »geometrische« Eigenschaften nicht unserer gewöhnlichen Anschauung entsprechen, deren Studium aber trotzdem nützlich ist, sowohl in der Mathematik als auch beispielsweise in der Physik. Dabei können wir die Theorie auch zum Teil auf beliebige Grundkörper, und zum größten Teil immerhin auf die Grundkörper \(\mathbb R\) und \(\mathbb C\) ausdehnen.

Für uns soll »Geometrie« hier bedeuten, dass wir Vektorräume, und zwar speziell die Vektorräume \(\mathbb R^n\), die natürlichen Verallgemeinerungen der Räume \(\mathbb R^1\), \(\mathbb R^2\), \(\mathbb R^3\), die direkt unserer Anschauung zugänglich sind, in Hinsicht auf »geometrische Eigenschaften« besser verstehen möchten. Die geometrischen Eigenschaften, die wir betrachten werden, sind

  • Der Abstand zwischen zwei Punkten,

  • der Winkel zwischen zwei sich schneidenden Geraden (bzw. zwischen zwei Vektoren),

  • der Flächeninhalt von (geeigneten) Teilmengen von \(\mathbb R^n\).

Wir werden beispielsweise den Satz des Pythagoras, den Satz des Thales und den Kosinussatz beweisen und zeigen, dass der Flächeninhalt des Einheitskreises gleich der Hälfte seines Umfangs ist.

Im ersten Abschnitt des Kapitels führen wir den Begriff des affinen Raums ein. Dies ist der natürliche Kontext, um über Geraden, Ebenen, … und ihre Lage zueinander (zum Beispiel, ob zwei geraden parallel sind) zu sprechen, noch ohne Abstände oder Flächeninhalte zu messen.

Danach führen wir zunächst den Abstand zwischen zwei Punkten ein. Dies gibt auch einen direkten Zugang zur Definition, wann zwei Geraden bzw. Vektoren aufeinander senkrecht stehen. Das Skalarprodukt zweier Vektoren, das wir an dieser Stelle definieren werden, wird uns auch ermöglichen, den Winkel zwischen zwei Vektoren zu definieren. Um das in einer Art und Weise tun zu können, die sowohl mathematisch-formalen Ansprüchen genügt als auch die verwendeten Hilfsmittel (insbesondere die trigonometrischen Funktionen Sinus und Kosinus) einigermaßen motiviert, besprechen wir zunächst, wie man die Länge einer »Kurve« messen kann. Wir werden das dann benutzen, um die Länge von Teilen (»Kreisbögen«) des Einheitskreises, des Kreises mit Radius \(1\) um den Ursprung \((0,0)^t\in \mathbb R^2\), messen zu können.

Das erlaubt uns, einen Winkel in der Ebene, also den »Sektor«, der zwischen zwei am Ursprung beginnenden Halbgeraden eingeschlossen ist, durch die Länge des Kreisbogens zu messen, der durch die beiden Halbgeraden vom Einheitskreis ausgeschnitten wird.

In Abschnitt 11.6 werden wir dann über den Begriff des Flächeninhalts von Teilmengen von \(\mathbb R^2\) und allgemeiner über das Volumen (oder das Maß) von »messbaren« Teilmengen von \(\mathbb R^n\) sprechen und den Zusammenhang zwischen der Determinante eines Endomorphismus und der dadurch bewirkten Volumenveränderung herstellen.

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