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17.2 Zerlegung in verallgemeinerte Eigenräume

Unser Ziel ist nun, für einen trigonalisierbaren Endomorphismus \(f\) eines endlichdimensionalen \(K\)-Vektorraums \(V\) eine Zerlegung von \(V\) zu finden, die die Zerlegung in Eigenräume, die wir im diagonalisierbaren Fall haben, verallgemeinert. Wir wollen also die verschiedenen Eigenwerte von \(f\) »trennen« und dann die Unterräume (auf denen \(f\) nur einen einzigen Eigenwert hat) einzeln behandeln.

Wir wissen, dass die direkte Summe der Eigenräume von \(f\) nur dann gleich \(V\) ist, wenn \(f\) diagonalisierbar ist. Andernfalls müssen wir geeignete größere Untervektorräume von \(V\) betrachten als die Eigenräume, und zwar definieren wir zu einem Eigenwert \(\lambda \in K\) von \(f\) den »verallgemeinerten Eigenraum«.

Definition 17.12

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler Vektorraum über \(K\) und sei \(f\in \operatorname{End}_K(V)\). Sei \(\lambda \in K\) ein Eigenwert von \(f\). Der Untervektorraum

\begin{equation} \label{verallg_er} \tilde V_\lambda := \tilde{V}_\lambda (f) = \bigcup _{i\ge 0} \operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id})^i \end{equation}
17.3

heißt der verallgemeinerte Eigenraum (oder Hauptraum) von \(f\) zum Eigenwert \(\lambda \).

Wir sehen insbesondere, dass der Eigenraum von \(f\) zum Eigenwert \(\lambda \), das ist \(\operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id})\), im verallgemeinerten Eigenraum enthalten ist. Weil \(V\) endlichdimensional ist, ist klar, dass in der aufsteigenden Kette

\[ V_\lambda = \operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id}) \subseteq \operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id})^2 \subseteq \cdots \subseteq \tilde{V}_\lambda \]

höchstens endlich viele Inklusionen echte Teilmengen sein können. Es gibt also ein \(m\in \mathbb N\) mit \(\tilde{V}_\lambda = \operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id})^m\). (Wir werden später sehen, dass diese Gleichheit immer schon für \(m=\operatorname{mult}_\lambda (\operatorname{minpol}_f)\) richtig ist.)

Der wesentliche Punkt, um die gesuchte Zerlegung zu beweisen, ist das folgende Ergebnis, für das wir nicht vorauszusetzen brauchen, dass \(f\) trigonalisierbar ist. Es liefert zu jeder Zerlegung des Minimalpolynoms eines Endomorphismus \(f\colon V\to V\) in zueinander teilerfremde Faktoren eine Zerlegung von \(V\) in \(f\)-invariante Unterräume, so dass das Minimalpolynom der Einschränkungen auf die beiden Summanden der jeweilige vorgegebene Faktor ist.

Satz 17.13

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler \(K\)-Vektorraum und \(f\colon V\to V\) ein Endomorphismus.

Sei \(\operatorname{minpol}_f = \zeta \cdot \xi \) eine Zerlegung in zueinander teilerfremde normierte Polynome \(\zeta , \xi \in K[X]\).

Dann sind \(U:=\operatorname{Ker}(\zeta (f))\) und \(W:=\operatorname{Ker}(\xi (f))\) invariante Untervektorräume von \(V\). Weiter gilt:

  1. \(U = \operatorname{Im}(\xi (f))\), \(W=\operatorname{Im}(\zeta (f))\),

  2. \(V = U\oplus W\),

  3. \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}} = \zeta \), \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}} = \xi \).

Beweis

Weil \(f\circ \zeta (f) = \zeta (f) \circ f\) gilt, ist \(U\) ein \(f\)-invarianter Unterraum. Analog gilt das für \(W\).

Wir zeigen nun, dass \(U = \operatorname{Im}(\xi (f))\) gilt. Weil \(\zeta \) und \(\xi \) teilerfremd sind, können wir Polynome \(p,q\in K[X]\) mit \(p\zeta + q\xi = 1\) finden. Setzen wir in diese Gleichheit \(f\) ein, so erhalten wir

\[ p(f)\circ \zeta (f) + q(f)\circ \xi (f) = \operatorname{id}_V. \]

Sei nun \(u\in U\), das heißt \(\zeta (f)(u)=0\). Dann ist

\[ u = p(f)(\zeta (f)(u)) + \xi (f)(q(f)(u)) = \xi (f)(q(f)(u))\in \operatorname{Im}(\xi (f)). \]

Für die andere Inklusion sei \(u\in \operatorname{Im}(\xi (f))\), etwa \(u=\xi (f)(v)\). Dann folgt \(\zeta (f)(\xi (f)(v)) = \operatorname{minpol}_f(f)(v)=0\), also \(u\in U\).

Entsprechend haben wir \(W=\operatorname{Im}(\zeta (f))\), und aus der Dimensionsformel für den Endomorphismus \(\zeta (f)\) von \(V\) folgt, dass \(\dim U +\dim W = \dim V\) ist. Für Teil (2) genügt es folglich, \(U\cap W =0\) zu zeigen.

Sei also \(v\in \operatorname{Ker}(\zeta (f))\cap \operatorname{Ker}(\xi (f))\). Wir haben dann

\[ v = p(f)(\zeta (f)(u)) + q(f)(\xi (f)(u)) = 0. \]

Es bleibt Teil (3) zu zeigen. Sicher ist \(\zeta (f_{|U})\) die Nullabbildung, denn \(U\) wurde ja als der Kern von \(\zeta (f)\) definiert. Das bedeutet \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}}\, |\, \zeta \). Entsprechend sehen wir \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}}\, |\, \xi \). Außerdem folgt aus der Zerlegung \(V=U\oplus W\) (weil \(U\) und \(W\) invariant unter \(f\) sind), dass \(\operatorname{minpol}_f \, |\, \operatorname{minpol}_{f_{|U}}\operatorname{minpol}_{f_{|W}}\) ist: Wir können \(f\) entsprechend dieser Zerlegung durch eine Block-Diagonalmatrix darstellen, und \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}}\) bzw. \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}}\) annullieren den zu \(U\) bzw. \(W\) korrespondierenden Block. Also annulliert das Produkt die gesamte Matrix und damit den Endomorphismus \(f\), wird also von \(\operatorname{minpol}_f\) geteilt.

Wir erhalten damit eine Kette

\[ \operatorname{minpol}_f \, |\, \operatorname{minpol}_{f_{|U}}\cdot \operatorname{minpol}_{f_{|W}} \, |\, \zeta \cdot \xi = \operatorname{minpol}_f \]

von Teilbarkeitsbeziehungen. Weil links und rechts dasselbe Polynom stehen und alle auftretenden Polynome normiert sind, muss in dieser Kette überall Gleichheit gelten. Wir haben gesehen, dass \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}}\, |\, \zeta \) und \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}}\, |\, \xi \) gilt; die Gleichheit \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}}\cdot \operatorname{minpol}_{f_{|W}} = \zeta \cdot \xi \) impliziert daher (wiederum, weil alle Polynome hier normiert sind), dass \(\operatorname{minpol}_{f_{|U}}=\zeta \) und \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}}=\xi \) ist.

Als nächstes ergänzen wir den Satz um die folgende Präzisierung in dem speziellen Fall, dass \(\zeta \) die Potenz eines irreduziblen Polynoms ist.

Satz 17.14

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler \(K\)-Vektorraum und \(f\) ein Endomorphismus von \(V\). Sei \(\pi \in K[X]\) ein irreduzibles Polynom, das ein Teiler von \(\operatorname{minpol}_f\) ist. Wir schreiben \(\operatorname{minpol}_f = \pi ^m\cdot \xi \) mit \(\pi \nmid \xi \). Das bedeutet, dass \(m\) die größte natürliche Zahl ist, so dass \(\pi ^m\, |\, \operatorname{minpol}_f\) gilt.

Es ist dann \(\pi \) auch ein Teiler von \(\operatorname{charpol}_f\) und wir schreiben \(\operatorname{charpol}_f = \pi ^{m^\prime }\eta \) mit \(\pi \nmid \eta \).

  1. Es gilt

    \[ \bigcup _{i\ge 1} \operatorname{Ker}(\pi ^i(f)) = \operatorname{Ker}(\pi ^m(f))\quad =: U. \]
  2. Das charakteristische Polynom von \(f_{|U}\) ist \(\pi ^{m^\prime }\), das von \(f_{|W}\) ist \(\eta \).

Beweis

Wir wenden Satz 17.13 auf \(\zeta := \pi ^m\) und \(\xi \) an und erhalten insbesondere \(\operatorname{Ker}(\pi ^m(f))=\operatorname{Im}(\xi (f))\). Weil für jedes \(i\ge 0\) die Elemente \(\pi ^i\) und \(\xi \) teilerfremd sind, zeigt dasselbe Argument wie im Beweis von Satz 17.13, dass \(\operatorname{Ker}(\pi ^i(f))\subseteq \operatorname{Im}(\xi (f))\) gilt. Damit folgt Teil (1).

Für Teil (2) benutzen wir, dass die irreduziblen Teiler von Minimalpolynom und charakteristischem Polynom eines Endomorphismus übereinstimmen (also ist \(\operatorname{charpol}_{f_{|U}}\) eine Potenz von \(\pi \) und \(\pi \nmid \operatorname{charpol}_{f_{W}}\)). Außerdem gilt

\[ \operatorname{charpol}_f = \operatorname{charpol}_{f_{|U}}\cdot \operatorname{charpol}_{f_{|W}}. \]

Zusammen folgt die Behauptung von Teil (2).

Für die Jordansche Normalform brauchen wir diese Sätze nur im trigonalisierbaren Fall anzuwenden und Sie sollten sich ihre Aussagen und Beweise (zumindest im ersten Durchgang) mindestens in diesem speziellen Fall klarmachen. Dann hat \(\pi \) die Form \(X-\lambda \) für ein \(\lambda \in K\) und es ist \(m=\operatorname{mult}_\lambda (\operatorname{minpol}_f)\), \(m^\prime = \operatorname{mult}_\lambda (\operatorname{charpol}_f)\). Wir formulieren für diesen Fall das Ergebnis noch einmal explizit als das folgende Korollar, das eine direkte Übersetzung der beiden obigen Sätze im hier betrachteten Spezialfall ist.

Korollar 17.15

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler \(K\)-Vektorraum und \(f\) ein Endomorphismus von \(V\). Sei \(\lambda \in K\) ein Eigenwert von \(f\) und sei

\[ \tilde{V}_\lambda = \bigcup _{i\ge 1} \operatorname{Ker}((f-\lambda \operatorname{id}_V)^i) \]

der verallgemeinerte Eigenraum von \(f\) zum Eigenwert \(\lambda \). Wir setzen \(m:= \operatorname{mult}_\lambda (\operatorname{minpol}_f)\) und schreiben \(\operatorname{minpol}_f = (X-\lambda )^m\cdot \xi \) (mit \(\xi \in K[X]\), \(\xi (\lambda )\ne 0\)). Dann gilt

  1. \(\tilde{V}_\lambda = \operatorname{Ker}((f-\lambda \operatorname{id}_V)^{m})\),

  2. \(V = \tilde{V}_{\lambda }\oplus W\), wobei \(W = \operatorname{Ker}(\xi (f)) = \operatorname{Im}((f-\lambda \operatorname{id}_V)^{m})\).

  3. Das Minimalpolynom der Einschränkung von \(f\) auf \(\tilde{V}_\lambda \) ist \((X-\lambda )^m\). Das charakteristische Polynom dieser Einschränkung ist \((X-\lambda )^{m^\prime }\) mit \(m^\prime = \operatorname{mult}_\lambda (\operatorname{charpol}_f)\). Insbesondere ist \(\lambda \) der einzige Eigenwert von \(f_{|\tilde{V}_\lambda }\) und \(\dim (\tilde{V}_\lambda )=m^\prime \).

  4. Der Untervektorraum \(W\) aus Teil (2) ist \(f\)-invariant und \(\operatorname{minpol}_{f_{|W}}= \xi \).

Weil \(\tilde{V}_\lambda \) jedenfalls den Eigenraum \(V_\lambda = \operatorname{Ker}(f-\lambda \operatorname{id}_V)\ne 0\) enthält, sehen wir mit Teil (1), dass \(m\ge 1\) gelten muss.

Indem wir im trigonalisierbaren Fall, wo charakteristisches Polynom und Minimalpolynom vollständig in Linearfaktoren zerfallen, das Korollar wiederholt auf alle Eigenwerte anwenden, können wir den Unterraum \(W\) weiter zerlegen und erhalten induktiv die oben schon angekündigte Zerlegung in verallgemeinerte Eigenräume.

Korollar 17.16 Zerlegung in verallgemeinerte Eigenräume

Seien \(K\) ein Körper, \(V\) ein endlichdimensionaler \(K\)-Vektorraum und \(f\) ein trigonalisierbarer Endomorphismus von \(V\). Seien \(\lambda _1,\dots ,\lambda _r\in K\) die paarweise verschiedenen Eigenwerte von \(K\) und sei für \(i=1,\dots , r\) mit

\[ \tilde{V}_{\lambda _i} = \bigcup _{j\ge 1} \operatorname{Ker}((f-\lambda _i\operatorname{id}_V)^j) = \operatorname{Ker}((f-\lambda _i\operatorname{id}_V)^{\operatorname{mult}_{\lambda _i}(\operatorname{minpol}_f)}) \]

der verallgemeinerte Eigenraum von \(f\) zum Eigenwert \(\lambda _i\) bezeichnet.

Dann gilt

\[ V = \tilde{V}_{\lambda _1}\oplus \cdots \oplus \tilde{V}_{\lambda _r}. \]

Insbesondere sehen wir erneut, dass \(V\) die direkte Summe der (gewöhnlichen) Eigenräume ist, wenn das Minimalpolynom vollständig in Linearfaktoren zerfällt und nur einfache Nullstellen hat. Wir haben also Korollar 16.29 (2) erneut bewiesen.

Mit diesem Korollar haben wir den ersten Zwischenschritt zum Beweis der Existenz der Jordanschen Normalform für den Endomorphismus \(f\) erreicht, denn wir haben den Vektorraum in eine direkte Summe von \(f\)-invarianten Untervektorräumen zerlegt, die den einzelnen Eigenwerten von \(f\) »zugeordnet« sind. Genauer gesagt ist der einzige Eigenwert, den die Einschränkung von \(f\) auf \(\tilde{V}_{\lambda _i}\) hat, gerade das Element \(\lambda _i\in K\), denn dies ist die einzige Nullstelle des Minimalpolynoms von \(f_{|\tilde{V}_{\lambda _i}}\).

Überlegen Sie sich, dass das Korollar (im trigonalisierbaren Fall) leicht aus dem Satz über die Jordansche Normalform folgen würde (das ist an dieser Stelle natürlich nur ein Plausibilitätstest, weil wir das obigen Korollar als einen Baustein im Beweis der Existenz der Jordanschen Normalform benutzen möchten.)