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4.4 Die Existenz eines algebraischen Abschlusses

Definition 4.26

Ein Körper \(K\) heißt algebraisch abgeschlossen, wenn die folgenden äquivalenten Bedingungen erfüllt sind:

  1. Jedes nicht-konstante Polynom \(f\in K[X]\) besitzt eine Nullstelle in \(K\).

  2. Jedes nicht-konstante Polynom \(f\in K[X]\) zerfällt über \(K\) vollständig in Linearfaktoren.

Es ist klar, dass (i) aus (ii) folgt. Um andersherum (ii) zu zeigen, wenn (i) gilt, führen wir Induktion nach dem Grad von \(f\). Nach (i) besitzt jedes nicht-konstante \(f\) jedenfalls eine Nullstelle \(\alpha \in K\). Wir schreiben \(f = (X-\alpha )g\) für ein Polynom \(g\) und wenden dann auf \(g\) (sofern \(g\) nicht konstant ist) die Induktionsvoraussetzung an.

Lemma 4.27

Sei \(K\) ein Körper. Die folgenden Aussagen sind äquivalent:

  1. Der Körper \(K\) ist algebraisch abgeschlossen.

  2. Die irreduziblen Polynome in \(K[X]\) sind genau die Polynome vom Grad \(1\).

  3. Für jede algebraische Körpererweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) gilt \(L=K\). (Wir sagen, \(K\) habe keine echten algebraischen Erweiterungen.)

  4. Für jede endliche Körpererweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) gilt \(L=K\). (Wir sagen, \(K\) habe keine echten endlichen Erweiterungen.)

Beweis

(i) \(\Rightarrow \) (ii). In jedem Fall ist jedes Polynom vom Grad \(1\) irreduzibel. Ist \(K\) algebraisch abgeschlossen, so zerfällt jedes Polynom als Produkt von linearen Polynomen. Gibt es mehr als einen Faktor, so ist das Polynom natürlich nicht irreduzibel.

(ii) \(\Rightarrow \) (iii). Sei \(K\) algebraisch abgeschlossen und \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Erweiterung. Für \(\alpha \in L\) ist dann das Minimalpolynom \(\operatorname{minpol}_{K,\alpha }\) irreduzibel, hat also Grad \(1\), das bedeutet \(\alpha \in K\).

(iii) \(\Rightarrow \) (iv) ist klar, weil jede endliche Erweiterung algebraisch ist.

(iv) \(\Rightarrow \) (i). Sei \(f\in K[X]\) ein nicht-konstantes Polynom. Wir wollen zeigen, dass \(f\) eine Nullstelle in \(K\) besitzt. Indem wir gegebenenfalls \(f\) durch einen Teiler ersetzen, können wir annehmen, dass \(f\) irreduzibel ist. Dann ist \(K[X]/(f)\) eine endliche Körpererweiterung von \(K\) vom Grad \(\deg (f)\). Aus (iv) folgt also \(\deg (f) = 1\). Also ist \(f\) linear und besitzt insbesondere eine Nullstelle in \(K\).

Wir wollen zeigen, dass jeder Körper einen algebraisch abgeschlossenen Erweiterungskörper besitzt, genauer: einen algebraischen Abschluss im Sinne der folgenden Definition.

Definition 4.28

Sei \(K\) ein Körper. Unter einem algebraischen Abschluss von \(K\) verstehen wir einen algebraisch abgeschlossenen Erweiterungskörper \(\overline{K}\) von \(K\), derart dass die Erweiterung \(\left.\overline{K}\middle /K\right.\) algebraisch ist.

Lemma 4.29

Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Körpererweiterung, so dass jedes nicht-konstante Polynom \(f\in K[X]\) über dem Körper \(L\) vollständig in Linearfaktoren zerfällt. Dann ist \(L\) ein algebraischer Abschluss von \(K\).

Beweis

Es ist zu zeigen, dass \(L\) algebraisch abgeschlossen ist. Wir zeigen, dass für jede algebraische Körpererweiterung \(\left.M\middle /L\right.\) notwendigerweise \(M=L\) gilt.

Sei also \(M\) ein algebraischer Erweiterungskörper von \(L\) und sei \(\alpha \in M\). Dann ist \(\alpha \) algebraisch über \(K\), und das Minimalpolynom von \(\alpha \) über \(K\) zerfällt in \(L[X]\) nach unserer Voraussetzung vollständig in Linearfaktoren. Weil \(\operatorname{minpol}_L(\alpha )\) ein irreduzibles Polynom in \(L[X]\) ist, das \(\operatorname{minpol}_K(\alpha )\) teilt, folgt \(\deg (\operatorname{minpol}_L(\alpha )) = 1\), also \(\alpha \in L\).

Bemerkung 4.30

Es ist sogar die folgende stärkere Aussage richtig (aber schwieriger zu zeigen):

Sei \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Körpererweiterung, derart dass jedes nicht-konstante Polynom \(f\in K[X]\) eine Nullstelle in \(L\) besitzt. Dann ist \(L\) ein algebraischer Abschluss von \(K\).

Theorem 4.31

Sei \(K\) ein Körper. Dann existiert ein algebraischer Abschluss \(\overline{K}\) von \(K\).

Wir werden später zeigen (Satz 4.33), dass zu zwei algebraischen Abschlüssen \(L_1\) und \(L_2\) eines Körpers \(K\) ein \(K\)-Isomorphismus \(L_1\to L_2\) existiert.

Um die Existenz eines algebraischen Abschlusses zu zeigen, benutzen wir dieselbe Idee wie bei der Adjunktion einzelner Nullstellen im vorherigen Abschnitt. Allerdings fügen wir jetzt zu jedem nicht-konstanten Polynom eine Nullstelle hinzu.

Beweis von Theorem 4.31 nach E. Artin

Wir beschreiben zuerst, wie wir zu einem Körper \(K\) einen Erweiterungskörper \(C(K)\) konstruieren, in dem jedes nicht-konstante Polynom mit Koeffizienten in \(K\) eine Nullstelle besitzt. Wir wenden dazu sozusagen das Kronecker-Verfahren simultan auf alle nicht-konstanten Polynome in \(K[X]\) an, und zwar sei \(K[X]_{\ge 1}\) die Menge aller Polynome in \(K[X]\) vom Grad \(\ge 1\) und sei

\[ R := K[X_f,\ f\in K[X]_{\ge 1}] \]

der Polynomring, in dem wir für jedes Polynom \(f\) über \(K\) vom Grad \(\ge 1\) eine Variable \(X_f\) haben.

Behauptung. Das Ideal \(\mathfrak a := (f(X_f),\ f\in K[X]_{\ge 1})\subseteq R\) ist ein echtes Ideal, also \(\ne R\).

Begründung. Wenn \(1\in \mathfrak a\) wäre, dann ließe sich eine Darstellung von \(1\) von der Form

\[ 1 = \sum _{i=1}^n g_i\, f_i(X_{f_i}) \]

mit Polynomen \(g_i\in R\) finden. Indem wir gegebenenfalls Terme zusammenfassen, können wir annehmen, dass die \(f_i\) paarweise verschieden sind.

Sei \(L\) ein Erweiterungskörper, in dem die Polynome \(f_1, \dots , f_n\) eine Nullstelle haben (wir wenden Korollar 4.24 auf das Produkt dieser Polynome an). Sei jeweils \(\alpha _i\in L\) eine Nullstelle von \(f_i\).

Dann erhalten wir durch \(X_{f_i}\mapsto \alpha _i\) und \(X_f\mapsto 0\) für alle \(f\in K[X]_{\ge 1}\), die nicht in \(\{ f_1, \dots , f_n\} \) liegen, einen Homomorphismus \(R\to L\) von \(K\)-Algebren, der \(\sum _{i=1}^n g_i\, f_i(X_{f_i})\) auf \(0\) abbildet, im Widerspruch dazu, dass diese Summe \(=1\) ist. Es kann also eine solche Darstellung nicht geben.

Aus der Behauptung folgt mit Satz 3.22, dass ein maximales Ideal \(\mathfrak m\subset R\) existiert, das \(\mathfrak a\) enthält. Wir setzen \(C(K) = R/\mathfrak m\). Dies ist eine \(K\)-Algebra, also ein Erweiterungskörper von \(K\). Die Restklasse von \(X_f\) in \(C(K)\) ist eine Nullstelle von \(f\), also besitzt jedes nicht-konstante Polynom über \(K\) eine Nullstelle in \(C(K)\).

Die Erweiterung \(\left.C(K)\middle /K\right.\) ist algebraisch, denn sie wird erzeugt von den Restklassen der Variablen \(X_f\), und \(X_f\) ist eine Nullstelle von \(f\).

Um die Konstruktion eines algebraischen Abschlusses von \(K\) abzuschließen, setzen wir nun

\[ K_0 := K,\qquad K_i := C(K_{i-1})\quad \text{für}\ i\ge 1, \]

so dass wir eine Kette

\[ K=K_0 \subseteq K_1 \subseteq K_2 \subseteq \cdots \]

von Körpererweiterungen erhalten. Wir definieren dann

\[ \overline{K} := \bigcup _{i\ge 0} K_i. \]

Behauptung. Der Körper \(\overline{K}\) ist ein algebraischer Abschluss von \(K\).

Begründung. Sei \(f\in \overline{K}[X]\) ein nicht-konstantes Polynom. Dann existiert \(i\in \mathbb N\), so dass alle (endlich vielen) Koeffizienten von \(f\) in \(K_i\) liegen. Aber dann hat \(f\) in \(K_{i+1}\) und insbesondere in \(\overline{K}\) eine Nullstelle. Es folgt, dass \(\overline{K}\) algebraisch abgeschlossen ist. Weil die Erweiterungen \(\left.K_i\middle /K_{i-1}\right.\) algebraisch sind, gilt das auch für die Erweiterung \(\left.\overline{K}\middle /K\right.\).

Ergänzung 4.32 Alternative Beweise zum algebraischen Abschluss

Es gibt verschiedene andere Möglichkeiten, die Existenz eines algebraischen Abschlusses zu beweisen, siehe  [ Mi ] Ch. 6 für eine Liste und die Notiz https://kconrad.math.uconn.edu/blurbs/galoistheory/algclosureshorter.pdf von K. Conrad für einen weiteren Beweis (der auf Zorn zurückgeht).

Wir kommen nun zum Beweis der Eindeutigkeitsaussage, die immerhin sicherstellt, dass je zwei algebraische Abschlüsse eines Körpers \(K\) isomorph sind (als \(K\)-Algebren).

Satz 4.33

Seien \(K\) ein Körper, \(\left.L\middle /K\right.\) eine algebraische Körpererweiterung und sei \(\varphi \colon K\to E\) ein Körperhomomorphismus von \(K\) in einen algebraisch abgeschlossenen Körper \(E\).

  1. Dann existiert eine Fortsetzung von \(\varphi \) zu einem Körperhomomorphismus \(\psi \colon L\to E\) (d.h. \(\psi \) ist ein Homomorphismus und es gilt \(\psi (x) = \varphi (x)\) für alle \(x\in K\), oder äquivalent: \(\psi \) ist ein \(K\)-Algebra-Homomorphismus).

  2. Ist zusätzlich \(L\) algebraisch abgeschlossen und \(E\) algebraisch über \(K\), so ist jede Fortsetzung wie in Teil (1) ein Isomorphismus.

Auch wenn die Aussage des Satzes an die Sprechweise der universellen Eigenschaft erinnert, handelt es sich hier nicht um eine universelle Eigenschaft, weil die Eindeutigkeit des Homomorphismus \(\psi \) in Teil (1) nicht gegeben ist. Es folgt daher nicht, dass zwischen zwei algebraischen Abschlüssen von \(K\) ein eindeutig bestimmter \(K\)-Isomorphismus existiere (und das ist in aller Regel auch nicht der Fall), sondern nur, dass es (irgend-)einen solchen Isomorphismus gibt. In der Regel gibt es sehr viele, von denen keiner in besonderer Weise ausgezeichnet ist. Aus diesem Grund kann man die algebraischen Abschlüsse eines Körpers nicht »in natürlicher Weise« miteinander identifizieren. Daher sollte man auch nicht von dem algebraischen Abschluss eines Körpers sprechen (oder sich wenigstens dieser Problematik bewusst sein, wenn man es trotzdem tut …).

Beweis

Zu (1). Ist \(L = K[\alpha ]\) für ein Element \(\alpha \in L\), so können wir den gegebenen Homomorphismus \(\varphi \colon K\to E\) nach \(L\) fortsetzen, indem wir \(\alpha \) auf irgendeine Nullstelle des Minimalpolynoms \(\operatorname{minpol}_{\alpha , K}\) in \(E\) abbilden (Satz 4.25). (Ganz genau genommen betrachten wir hier \(\operatorname{minpol}_{\alpha , K}\) mittels \(\varphi \) als Polynom in \(E[X]\).)

(Induktiv folgt die Fortsetzbarkeit dann für jede endliche Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\), aber man kann auch ohne diese Bemerkung direkt zum allgemeinen Fall übergehen.)

Um den allgemeinen Fall zu erledigen, wenden wir nochmals das Lemma von Zorn an, und zwar betrachten wir die Menge

\[ \mathscr M = \{ (M, \psi );\ K\subseteq M\subseteq L\ \text{Zwischenkörper}, \psi \colon M\to E\ \text{eine Fortsetzung von}\ \varphi \} \]

aller Paar von Zwischenkörpern der Erweiterung \(\left.L\middle /K\right.\) zusammen mit einer Fortsetzung der gegebenen Abbildung. Wir definieren auf \(\mathscr M\) eine partielle Ordnung durch

\[ (M, \psi ) \le (M', \psi ') \quad \Longleftrightarrow \quad M\subseteq M'\ \text{und}\ \psi _{|M}\! ' =\psi . \]

Es ist leicht zu sehen, dass es sich hier tatsächlich um eine partielle Ordnung handelt. Die Voraussetzungen für das Lemma von Zorn sind erfüllt. Denn ist \((M_i, \psi _i)_i\) eine Kette in \(\mathscr M\), dann ist \(\bigcup _i M_i\) zusammen mit der Abbildung \(\bigcup _i M_i\to E\), die \(\alpha \in M_j\) auf \(\psi _j(\alpha )\) abbildet, eine obere Schranke.

Es existiert also ein maximales Element \((M, \psi )\) in \(\mathscr M\). Dann muss aber \(M=L\) gelten, denn gäbe es ein Element \(\alpha \in L\setminus M\), dann könnten wir mit dem am Anfang gegebenen Argument die Abbildung \(\psi \colon M\to E\) auch noch nach \(M[\alpha ]\) fortsetzen, im Widerspruch zur Maximalität von \((M, \psi )\). Aber wenn \(M=L\) gilt, ist \(\psi \colon L=M\to E\) die gesuchte Fortsetzung von \(\varphi \) nach \(L\).

Zu (2). Seien nun \(L\) algebraisch abgeschlossen und \(E\) algebraisch über \(K\), und \(\psi \colon L\to E\) eine Fortsetzung von \(\varphi \). Weil jeder Körperhomomorphismus injektiv ist, ist \(\psi \) ein Isomorphismus \(L\stackrel{\sim }{\smash {\longrightarrow }\rule{0pt}{0.4ex}}\psi (L)\). Insbesondere ist \(\psi (L)\) ebenfalls algebraisch abgeschlossen. Weil mit \(\left.E\middle /K\right.\) auch die Erweiterung \(\left.E\middle /\psi (L)\right.\) algebraisch ist, folgt \(\psi (L)=E\).

Bemerkung 4.34

Sei \(K\) ein Körper und sei \(L\) ein Erweiterungskörper von \(K\), der algebraisch abgeschlossen ist. Dann ist \(\{ x\in L;\ x\ \text{ist algebraisch über}\ K\} \) ein algebraischer Abschluss von \(K\) (warum?). Für Teilkörper von \(\mathbb C\) (zum Beispiel für \(\mathbb Q\)) kann man so einen »kanonischen« algebraischen Abschluss definieren.